Über Bord

Ingrid Noll ist bei mir eine sogenannte „Auto-Buy Autorin“. Das heißt, wenn ein neues Buch von ihr erscheint, wird das automatisch von mir gekauft/gelesen, weil ich mich darauf verlasse, dass von dieser Autorin etwas Gutes kommt bzw mich ihr Stil und ihre Geschichten ansprechen. Noll ist für mich eine geniale Autorin, die bitterböse Krimis schreibt, welche nicht von brutalem Mord und Totschlag leben oder von egozentrischen Ermittlern, sondern auf geradezu gelassene Art und Weise richtig perfide sind. Ich mag es, wie sie ihren Figuren Leben einhaucht und sie alle behandelt als seien es ihre eigenen Kinder. Ihre Romane Der Hahn ist tot und Die Apothekerin gehören zu meinen liebsten Lieblingsbüchern und den von mir am meisten gelesenen (ich lese selten ein Buch mehr als einmal, und wenn ich es tue, dann will das schon was heißen).

Worum geht’s?

Fünf Geschwister in den besten Jahren erfahren aus heiterem Himmel, dass sie einen Halbbruder haben. Der alte Familienpatriarch war zu Lebzeiten fremd gegangen, und aus dieser Affäre war ein Sohn hervorgegangen. Anfangs  noch etwas misstrauisch schleichen die Geschwister um den Neuen herum, will der Geld? Sich ins gemachte Nest setzen? Wer beweist überhaupt, dass man wirklich verwandt ist? Und so wird ein Gentest initiiert, der zutage fördert, dass Gerd tatsächlich der Halbbruder ist. Und überraschenderweise auch ein anderes Familiengeheimnis lüftet…
Dieser Teil des Buches nimmt schon gut 50% der Handlung ein, was ich, obwohl es mir gefallen hat, doch etwas fragwürdig fand. Die eigentliche Geschichte nämlich, auf die auch der Titel hindeutet, nimmt auf einer Kreuzfahrt ihren Lauf, an der zwei der Irgendwiedochnicht-Geschwister teilnehmen: Gerd nebst Gattin und die geschiedene Ellen samt erwachsener Tochter Amalia. Es kommt, wie es kommen muss: Einer ist zu viel und geht nicht ganz aus Versehen über Bord. Was danach folgt, ist das Rechtfertigen der Tat vor sich selbst und somit auch dem Leser. Gegen Ende nimmt das Ganze nochmal eine unerwartete Wendung nach dem Schema „Wer hat denn nun eigentlich wen umgebracht?“

Wie hats mir gefallen?

Wie das so oft der Fall ist (warum eigentlich?) ließ auch die Qualität der Nollschen Romane mit der Zeit nach. Bei einem so genialen Debüt wie Der Hahn ist tot liegt allerdings auch die Messlatte einfach sehr hoch. Jedenfalls gefiel mir schon ihr vorletzter Roman Ehrenwort nicht so wirklich. Trotzdem habe ich dann auch den neuesten, inzwischen elften, wieder gelesen. Erwartungen hatte ich keine, da das Buch auch schon keine so wirklich guten Kritiken bekomen hatte und viele Leser sich enttäuscht zeigten.

Ich fand es… okay. Nicht so schlecht wie erwartet, ich habe mich sogar gut unterhalten gefühlt und mich wieder einmal gerne von Nolls beherzter Erzählweise tragen lassen. Aber auch lange nicht so gut wie die meisten der früheren Romane. Aber auch das hatte ich nicht erwartet.
Die Geschichte krankt ein wenig an fehlender Geradlinigkeit. Die Story mit dem Gentest fand ich spannend, war aber anscheinend nur ein etwas zu lang geratenes Vorgeplänkel für den eigentlichen Kreuzfahrtplot. Diesen wiederum fand ich bis auf den Todesfall sehr handlungsarm. Der danach folgende erneute Umschwung in der Handlung („Wer war denn nun der Mörder?“) war wiederum spannender, verlief sich aber zu schnell im Sande.
Unterm Strich eine gute Idee, sprachlich gut und in nolltypisch berherzt-sachlicher Schnodderigkeit erzählt, aber meiner Meinung nach schlecht strukturiert. Mehr Gewicht auf die beiden letzten Drittel der Handlung hätten dem Roman sehr gut getan, die Genteststory hätte man sich genau genommen auch schenken können.

Somit insgesamt sicherlich nicht das beste Buch von Ingrid Noll, aber doch deutlich besser als erwartet! Ein feiner kleiner Krimi, ruhig erzählt und mit der gewohnten stoischen Boshaftigkeit.

Ingrid Noll – Über Bord
Juli 2012
ISBN 3257068328
331 Seiten
21,90 Euro (Hardcover), 19,99 (Kindle eBook)