Schöner Schein

Endlich mal wieder ein guter Brunettiroman!
Nachdem (nicht nur) ich bei den letzten 3-4 Bänden stetig nachlassende Qualität gespürt habe, scheint Donna Leon beim 18. Fall des venezianischen Commissarios erfreulicherweise wieder zu ihrer alten Stärke zurückgefunden zu haben. Klar ist, dass nach 18 erfolgreich gelösten Kriminalfällen und ebenso vielen Jahren irgendwann nicht mehr viel Neues kommen kann. Man kennt und liebtt das „Stammpersonal“ und ihre Eigenheiten: Guido und Paola Brunetti, Chiara und Raffi, Vice Questore Patta, Ispettore Vianello und meine Lieblingsfigur Signorina Elettra. Jeder hat seinen Platz und seine Aufgabe, die mir seit Jahren bekannt sind.
Insofern gibt es inzwischen (für mich) leider nichts wirklich Neues mehr zu entdecken in diesen Romanen, denn alle Facetten sind wohl inzwischen hinreichend ausgelotet. Aber ein neuer Brunettiband ist für mich immer wie ein Wiedersehen mit alten Freunden, und ich freue mich immer sehr darauf.

Gewohnt souverän verbindet Leon eine Mordermittlung mit philosophischen Gedankenspielen und Betrachtungen der Gesellschaft, wobei auch an Kritik nicht gespart wird. Schöner Schein – oder auch: Außen hui, innen pfui. Dies ist das Grundthema, welches sich in verschiedenen Variationen wie ein roter Faden durch den Roman zieht. Im Vordergrund steht die in Italien nicht zu unterschätzende Müllentsorgungsproblematik. An diesem im wahrsten Sinne des Wortes dreckigen Geschäft verdienen sich die Mafia sowie gediegene Wirtschaftsbosse dumm und dämlich.

Ebenfalls trügt der Schein über die maskengleich wirkende „Superliftata“ Franca Marinello, welche Brunetti bei einem Dinner bei seinen Schwiegereltern kennenlernt und die ihn zunächst nur privat sehr beschäftigt. Wie kann eine Frau, die „so“ aussieht, Cicero und Ovid lesen? Auch hier trügt der Schein, denn Signora Marinello ist innerlich schöner als äußerlich, was Brunetti verblüfft und nachhaltig beeindruckt. Im späteren Verlauf der Handlung enthüllt sich noch so manch anderes Geheimnis über „La Superliftata“ und zeigt wiederum – vieles ist nur schöner Schein.

Etwas mehr erzählerische Geradlinigkeit und etwas weniger aufdringliche Moralkeule  hätte ich mir gewünscht. Auch scheint mir Signora Leon ruhiger geworden zu sein und so auch ihr Commissario. Achtzehn Jahre gehen eben an niemandem spurlos vorbei. Die Bände der Anfangszeit waren oftmals trotz der stets gemächlichen Grundstimmung deutlich aktionsgeladener, das vermisse ich inzwischen etwas. Es dauert auch im vorliegenden Band recht lange, bis endlich etwas Fahrt in die Geschichte kommt und die Erzählung sich vom Randgeplänkel auf das Wesentliche konzentriert. Ich fand es zuweilen auch sehr schwierig, nachzuvollziehen, wie die einzelnen Fäden zu einem stimmigen Ganzen zusammenlaufen, mir haben sich einige Zusammenhänge nur bedingt erschlossen, was aber auch an dem etwas schwefälligen Erzählstil gelegen haben kann.
Insgesamt ist dieser Roman aber einer der besseren aus der Brunetti-Reihe, der über die Flaute der letzten Jahre hinweg tröstet und neugierig auf die Folgebände macht.

Donna Leon – Schöner Schein
344 Seiten
Diogenes Verlag, Mai 2010
ISBN: 3257067453
21,90 Euro

6 Kommentare zu “Schöner Schein

  1. Ich bin damals bei In Sachen Signora Brunetti ausgestiegen und habe mir jetzt endlich mal wieder einen ausgeliehen. Den 15. Fall und … uah … ich weiß nicht, ich denke die ganze Zeit etwas nach dem Motto: der wäre bestimmt was nettes für meine Eltern … (die ich sehr mag) … irgendwie … immerhin schlafe ich so schnell ein! ;-)

    • Der 15. war auch der, bei dem ich gemerkt habe – jetzt gehts bergab! 16+17 fand ich dann auch nur noch so lala, und die habe ich sehr lustlos gelesen. Aaber diesen hier tatsächlich wieder besser! Trotzdem reicht nichts mehr an die ganz alten Bände heran, die ersten 5, 6 fand ich wirklich allesamt grandios!

      Ich versteh schon, wenn einem das irgendwann zu langweilig wird, denn es wiederholt sich vieles wirklich. Ich versteh aber auch, dass es schwer ist, innerhalb dieser Serie mit den gefestigten Charakteren immer wieder was Neues zu schaffen. Den Brunetti, ich mag den einfach <3 Und ich habe einen Narren gefressen an Elettra, daher werde ich die Serie wohl bis Band 54 lesen und nie sooo ganz unvoreingenommen sein.

  2. Ach, wie gut dass die wieder besser werden :]
    14 und 15 fand ich RICHTIG lahm, einfach schade, dass Brunetti da nichts zu tun hatte.
    Allein der familiären Idylle im Hause Brunetti wegen kann ich aber nicht von der Reihe lassen. Kochen und Reden und Lesen.
    Und Patta! Wie er hinterher immer meint, er habe das ja von Anfang an geahnt. Und Elettra, die sich jede Information mit Leichtigkeit beschaffen kann.
    Einfach großartig.

    Magst du die Verfilmungen?
    Ich finde Uwe Kockisch als Brunetti ziemlich gut.

    Liebe Grüße

    • Ich mag die Filme sehr, aber obwohl Uwe Kockisch ja beim Großteil der Filme den Brunetti spielt (und das gut!), habe ich beim Lesen IMMER Joachim Król vor Augen. Ich fand den einfach besser besetzt, und auch Barbara Auer als Paola hat mir besser gefallen.

      Patta und Elettra mag ich beide sehr, sowohl in den Filmen als auch in den Büchern! Ich wüsste so gerne mal, was Elettra vorher gemacht hat, denn irgendwie ist sie ja schon ne kleine Hackerin, die in jedes Computersystem einfach so rein kommt. (Im neuen Band wird sie dabei übrigens mal erwischt, was ich gut fand, denn das macht sie menschlich.) Andererseits ist es gut, dass man nie erfährt, wer sie eigentlich ist, woher sie kommt und woher sie das alles kann. Ich mag dieses Geheimnisumwitterte, das wird mir auch nach 18 Büchern nicht langweilig.

      Ja, und der vertrottelte Patta, der eh immer alles besser weiß… :D Und Vianello ist mir auch ans Herz gewachsen, allerdings könnte der meinetwegen mal wieder mehr Raum bekommen, ich finde, er tritt immer mehr in den Hintergrund und wird immer hölzerner.
      Ich mag an den Büchern, dass sich auch die Nebenfiguren weiterentwickelt haben seitdem 1. Band.

  3. Ich habe vor rund 12 Jahren einmal einen der Romane gekauft (damals Aqua Alta) und mir vorgenommen, die Romane der Reihenfolge nach nochmal zu lesen (da ich halt mittendrin angefangen hatte). Aber irgendwie hab ich es vergessen. Danke für die Erinnerung! Werde mir den 1. Teil einmal holen.

  4. Ach, das erinnert mich daran, dass ich von Brunetti ja noch mehr lesen wollte. Bisher kenne ich nur Band 17, den fand ich ganz nett, aber Brunetti selbst hat mir als Kommissar richtig gut gefallen… ;)

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